Bewegung von Typ 8 aus dem Stresspunkt Typ 5

Der kleine Mensch in der großen Festung

Eine berührende Geschichte, welche die Bewegung von Typ 8 aus seinem Stesspunkt (Typ5) heraus zeigt.
Von Corinna Watier

Ich will versuchen eine Geschichte zu Papier zu bringen. Ein Märchen will ich erzählen, ein Märchen von einem kleinen Menschen. Er war nicht klein von Wuchs. Nein, das meine ich nicht. Er war klein, weil er sich die Angst zum ständigen Begleiter wählte.

Als Kind fürchtete er sich vor ganz realen Dingen wie zum Beispiel vor Hunden, die so groß waren, dass sie fast bis zu seiner Schulter reichten. Nicht weniger beängstigend waren jedoch die laut brüllenden oder die schweigend anklagenden Menschen mit vorwurfsvollem Blick und erhobenem Zeigefinger, die dem kleinen Menschen auf den Kopf tippten und ihn dadurch im Laufe seines Lebens immer kleiner machten. Er träumte in der Nacht Dinge, die ihn in seinem Bett vor Schreck erstarren ließen. Lange hinderten ihn die Traumbilder daran einzuschlafen. Das Herzklopfen ließ ihn keine Ruhe finden. Doch auch der Tag barg seine Gefahren. Wer waren die, die ihn zu beschützen vorgaben und ihn daran hinderten zu erkennen, daß Windmühlen in Wirklichkeit gar keine Riesen sind?

Der kleine Mensch war schließlich so winzig geworden, daß es ihm schien, als ob alles um ihn größer, stärker, wichtiger sei als er selbst. Wie sollte er bestehen, wie sich schützen gegen Vorwürfe, Anklagen, Forderungen einer doch angeblich wohlmeinenden Umgebung, die doch nur das Beste für ihn will? Er fühlte sich schwach, ohnmächtig und völlig überfordert. In seiner Verzweiflung entschloß er sich, eine Festung zu erbauen. Er verwendete seine Trauer, um die Mauern zu errichten und das Dach zu decken. Den Mörtel rührte er mit ungeweinten Tränen an. Türen und Fenster waren mit Gittern verschlossen, zu denen seine Angst ihm das Material lieferte. So verschanzte er sich und verwahrte den Schlüssel zum Ausgang an einem sicheren Ort, damit er nicht verlorenginge – oder, damit niemand eindringe und ihm den Schlüssel wegnähme. Jahrelang lebte er auf diese Weise dahin. Er fühlte sich sicher und geborgen, und obgleich er sich hin und wieder einsam fühlte und sich nach Gesellschaft sehnte, war es ihm so doch viel lieber.

Die Mauern seiner Festung waren unsichtbar, aber sehr stark. Wie beabsichtigt ließen ihn die anderen Menschen im großen und ganzen unbehelligt. Gelegentlich wagte sich mal jemand in die Nähe der Festung, klopfte sogar an die Tür und bat darum, eingelassen zu werden. Da er sich jedoch beharrlich weigerte, zu öffnen, gab es der Mensch, der draußen stand, bald auf. Mit der Außenwelt hatte der kleine Mensch auch die Risiken und Gefahren ganz einfach ausgesperrt: Er wagte sich ja nie hinaus; wer oder was konnte ihm da schon etwas anhaben!

Eines Tages stand er auf und stellte fest, daß der Himmel strahlend blau auf ihn herunterlachte. Ein vorwitziger Sonnenstrahl hatte seinen Weg durch eines der Fenster gefunden. Der kleine Mensch spitzte vorsichtig hinaus. Gelächter drang an sein Ohr. Er sah Gesichter, die vor Fröhlichkeit so strahlten wie der Himmel über ihm. Da zog es ihm heftig im Herzen. Traurigkeit beschlich ihn. Die Sehnsucht griff nach ihm und zog ihn zur Tür. Er wollte hinaus, hinaus zu den anderen, den freundlichen, den lachenden Menschen. „Es gibt Menschen ohne erhobenen Zeigefinger!“, jubelte er und rannte so schnell er konnte, um seinen Schlüssel zu holen.

Doch es war so lange her, seit er die Festung gebaut hatte, daß er sich nicht mehr an das Versteck erinnern konnte. Der kleine Mensch zermarterte sich das Gehirn. Er suchte in allen Ecken. Umsonst. Der Schlüssel war verloren. Seine Schutz- und Trutzburg war zu seinem Verließ geworden. Dort saß er allein, vergessen von der Welt da draußen, die er einmal freiwillig verlassen hatte. „Vielleicht können mich die Menschen da draußen befreien“, schoß es ihm durch den Kopf. Er lief zur Tür, schrie und winkte, doch es war, als prallten seine verzweifelten Versuche, sich bemerkbar zu machen, an den unsichtbaren Mauern ab. Kein Laut drang zu ihnen. Sie sahen ihn nicht, obgleich er mitten unter ihnen war. Mittlerweile war es Abend geworden. Das Lachen verlor sich langsam in der Ferne. Die herabsinkende Nacht verbarg sie zunehmend seinem Blick.

Dann war er allein. Nie zuvor hatten sich Schweigen und Stille so schwer auf ihn gelegt und kettetten ihn am Gemäuer fest. Sie hingen schwer an ihm, drückten ihn zu Boden und machten ihm das Atmen schwer. Er wartete viele Stunden, den nächsten Tag, die nächste Nacht. Lange dauerte es, bis der kleine Mensch begriff, daß die fröhlichen Menschen nicht zurückkämen. Niemand würde ihn befreien. „Aber ich muß hier einfach heraus!“, dachte er verzweifelt. Ihm war, als ob die Festung zusammenschrumpfte und ihn erdrücken würde. „Wie sollen sie mich auch sehen und hören! Warum nur sind meine Mauern so dick. Dann muß ich mich eben selbst befreien…. Aber ich weiß nicht wie….. weiß einfach nicht wie“.

Wie es kam, weiß er heute nicht mehr. Er erinnert sich nur noch daran, daß sein Körper plötzlich von Krämpfen geschüttelt wurde, Tränen über sein Gesicht rannen. Er schluchzte. Er weinte, das erste Mal seit vielen Jahren. Manchmal glaubte er, daß der Schmerz ihn so lange und fest gegen die Mauern drücken würde, bis er ganz mit ihr verschmolzen wäre… Irgendwann tief in der Nacht hatte der Schlaf endlich Erbarmen mit ihm.

Die Sonne stand bereits wieder hoch am Himmel, als er erwachte. Es schien ihm, als erstrahle sie an diesem neuen Tag mit besonderer Kraft und Helligkeit. Der kleine Mensch verstand zuerst gar nicht, woher plötzlich dieses unglaubliche Licht kam. Da bemerkte er, daß ein Teil des Daches und der Mauer weggebrochen war. Seine solide Festung war brüchig geworden. Wie war das nur möglich? Hatten die Tränen, die so lange hatten geweint werden wollen, vielleicht den Mörtel aufgelöst? Egal. In diesem Augenblick interessierte ihn das nicht. Er hatte einen Weg nach draußen gefunden. Mit wiedererwachter Hoffnung und großer Freude machte er sich auf die Suche nach Lachen und Fröhlichkeit, fest davon überzeugt, daß er bekommen würde, wonach er sich sehnte, vorausgesetzt, er wäre bereit, beides zu sich kommen zu lassen und anzunehmen. So veließ er seine Festung und machte sich auf die Reise.
Corinna Watier, im Sommer 1999